Die Gnade Gottes verstehen

Christoph Köhler

von Christoph Köhler, Leiter der Missionsschule Focus M im Glaubenszentrum Bad GandersheimDie Gnade ist eines der kostbarsten Geschenke, das Gott uns Menschen gemacht hat. Aus diesem Grund ist es für uns Christen absolut notwendig, ein klares Verständnis darüber zu erlangen, was diese Gnade im biblischen Sinne ist und was nicht. Wir erleben heute, dass der Begriff der Gnade in seiner Wirksamkeit auf teilweise inflationäre Weise gebraucht wird. Damit wird nicht nur Gott und sein Wort entehrt, sondern auch dem christlichen Zeugnis vor den Menschen Schaden zugefügt.

Die Wortbedeutung von Gnade (gr. charis) ist gewährte Freundlichkeit, Wohltat, Dankbarkeit, Annahme, Gunst, ohne Erwartung von Vergeltung, die ihren einzigen Beweggrund in der Güte und Freimütigkeit des Gebers hat. Charis steht im NT vielfach in direktem Gegensatz zu Werken (gr. erga). Diese schließen sich beide aus, wenn es sich um Werke handelt, die getan wurden, um vor Gott gerecht zu werden. Die Gnade Gottes vergibt dem Sünder, der bereut, bringt ihm Freude und Dankbarkeit und verändert ihn!1

Dabei führt Gottes Gnade uns Menschen immer zur Befähigung. Da, wo die Gnade nur als Trostpflaster oder zur Rechtfertigung bei Versagen, frei nach dem Motto: „Ich schaffe es sowieso nicht, … aber Gott ist ja gnädig …“, benutzt wird, wird ihre Kraft falsch interpretiert.

Das große Missverständnis

Ein Merkmal unserer postmodernen Zeit ist der Wunsch nach einfachen und schnellen Lösungen, die nicht viel kosten, auch in der Nachfolge Jesu. In diesem Kontext ist durch die Lehre der Hypergrace- oder „modernen Gnadenbewegung“ bei vielen Christen der Eindruck entstanden, dass es im Leben eines Christen (aufgrund der Gnade) keinerlei „Werke“ mehr bedarf. Alles, was nach „geistlicher Arbeit“ aussieht oder danach, dass ein Christ Dinge zu befolgen hat, wird hier in die Schublade von Leistung, Gesetzlichkeit oder alttestamentlichem Denken gepackt. Dazu wird gelehrt, dass Jesus bereits alle Sünden – die der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – vergeben hat, darum hat er kein Problem mehr mit unseren Sünden. Was nicht gesagt wird, ist, dass die Vergebung seiner Sünden aber nur der erfährt, der das Erlösungswerk Jesu bewusst für sich persönlich im Glauben beansprucht. Wir erleben in Bezug auf die Lehre über Gnade eine starke Vermischung von Wahrheit und Halbwahrheit sowie Abkürzungen und die Vermischung biblischer Aussagen. Das Fatale daran ist, dass jede übertriebene Darstellung der Gnade Gottes zwar gut klingt, aber im Grunde jeden Heiligungsprozess im Leben eines Christen untergräbt. Gott gab uns seine Gnade nicht zur Rechtfertigung für kraftloses und angepasstes Christsein, sondern als stärkende Dimension für echte Nachfolge.

Mehr als Überwinder

Paulus sagt in Römer 8,37: „Aber in diesem allen sind wir mehr als Überwinder durch den, der uns geliebt hat“. Worin würde der Sinn bestehen, dass Gott uns zu mehr als Überwindern macht, wenn es für uns nichts mehr zu überwinden gäbe? Auch Kinder Gottes müssen widrige Umstände, herausfordernde Lebenssituationen oder einfach die Schwachheit ihrer eigenen menschlichen Natur überwinden. Dazu wurden sie begnadigt! Weil Christus selbst diese Dinge in seinem eigenen irdischen Leben als Mensch überwunden hat und uns als „Scheck“ seines finalen Sieges am Kreuz das Recht geschenkt hat, alles in Anspruch zu nehmen, was er dort erkämpft hat, wurden wir zu „mehr“ als Überwindern. Jesus selbst war es, der den Kampf gegen die Macht der Sünde und des Todes für uns gekämpft hat. Ihn hat es alles gekostet. Er hat widerstanden, er hat ausgehalten, er hat geblutet und er hat am Kreuz überwunden: Er war der Überwinder. Aber alle, die an ihn glauben, erhalten seinen Siegespreis, den „Überwinderscheck“ und werden aus Gnade zu Teilhabern der göttlichen Natur, indem sie Anteil erhalten an seinen kostbaren Verheißungen (2.Petrus 1,4).

Erben in Christus

„Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus! Er hat uns gesegnet mit jeder geistlichen Segnung in der Himmelswelt in Christus, …“ (Epheser 1,3)

Es lohnt sich, danach zu fragen, welches Erbe uns Christen im Wort Gottes zugesprochen wird. Wenn wir nicht wissen, was uns gehört, werden wir es auch nicht in Anspruch nehmen können. Erlösung, Vergebung, Gerechtigkeit, Freiheit, Heilung, Schutz, Versorgung, Bestimmung, Führung, Kraft, Freude und Frieden sind nur einige dieser himmlischen Reichtümer, die uns „in Christus“ geschenkt wurden. In den ersten drei Kapiteln des Epheserbriefes finden sich mehr als zwanzig Aussagen, die von diesem Erbe sprechen. Wie aber werden diese Segnungen des Himmels wirksam in unserem Leben? – Die Gnade wird durch Glauben wirksam. Gottes Zusagen müssen geglaubt und ergriffen werden, sonst bleiben sie wirkungslos! Obwohl Israel als Volk die Zusage Gottes von einem Land hatte, in dem Milch und Honig fließen würden, mussten sie es doch Stück für Stück mit seiner Hilfe einnehmen. Das Reich Gottes hier auf Erden ist kein Schlaraffenland, in dem wir sitzen und darauf warten, dass Gott uns seine Segnungen in den „offenen Mund“ fliegen lässt. Gott kooperiert mit mündigen Christen, die er befähigt! Wir brauchen nichts mehr für unsere Errettung von Gott her tun! Aber ganz sicher gibt es noch viel für unser Wachstum in Christus und seine Fülle in unserem Leben zu tun!

Identitätswechsel erforderlich

In meinem eigenen Leben durfte ich erfahren, was es heißt, eine neue Identität zu erhalten. Fast über Nacht geschah es, dass ich von einem Bürger der DDR mit blauem Personalausweis und sehr begrenzter Freiheit zu einem Bürger der Bundesrepublik Deutschland mit Reisepass und fast grenzenloser Freiheit wurde. Meine Herausforderung bestand von nun an darin herauszufinden, welche neuen Rechte und Pflichten ich jetzt besaß und auch darin zu leben. Heute darf ich in Länder reisen, die viele Jahre für mich verschlossen waren. Allerdings liegt die Entscheidung, dies auch zu tun, allein bei mir selbst. Hier liegt das Problem vieler Christen. Am Tage ihrer Bekehrung haben sie durch Gottes Gnade einen neuen „Pass“ mit neuen Rechten erhalten, durch die sie die Reichtümer und Schönheiten des Reiches Gottes schmecken und erleben können. Trotzdem bleiben viele in ihrer kleinen, altvertrauten Welt mit ihren engen Grenzen sitzen, ohne das Leben zu finden, nachdem sie doch eigentlich suchen. Gott will es anders! Seine Gnade ist für diejenigen, die eigene Grenzen überwinden wollen!

„… dass ihr, was den früheren Lebenswandel angeht, den alten Menschen abgelegt habt, der sich durch die betrügerischen Begierden zugrunde richtet, dagegen erneuert werdet in dem Geist eurer Gesinnung …“ (Epheser 4,22–23)

Die Erneuerung unseres Lebens beginnt mit einem erneuerten Denken. Wahre Identität finden wir allein in Gott, indem wir nicht länger unseren Gefühlen, sondern seinen Aussagen über uns als seinen Kindern glauben. Das ehrt ihn und verändert uns gleichzeitig. Seine Gnade befähigt uns, von uns selbst wegzuschauen, um für seine Absichten zu leben. Wir wurden dazu gesegnet, um ein Segen zu sein, wo immer sich die Möglichkeit dazu bietet. Durch Gnade sind wir jederzeit an Gottes Fülle angeschlossen. Das ist das Leben im Überfluss. Strecken wir uns danach aus, um es für seine Ehre zu leben!

Endnote
1 Elberfelder Studienbibel mit Sprachschlüssel und Handkonkordanz, 6. Aufl., Witten: SCM R. Brockhaus, S. 2090 (Nr. 5297).

Christoph Köhler
Seit 2009 leitet Christoph Köhler gemeinsam mit seiner Frau Kirsten die Missionsschule Focus M. im Glaubenszentrum Bad Gandersheim. Außerdem gehört Christoph zur Lehrerschaft der Bibelschule und ist seit Dezember 2017 Teil des Leitungsteams. Christoph und Kirsten haben drei erwachsene, verheiratete Töchter sowie neun Enkelkinder.

 

 

Dieser Artikel stammt aus dem Erlebt Magazin zum Thema Gnade.
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