Herkunftsfamilie – Fluch oder Segen?

von Stephan Münch, Theologe und Leiter des Projekts „Lebenstraum“

Eine Einsicht am Lagerfeuer

Mit Tränen in den Augen saß Verena (20) am Lagerfeuer und erzählte ihre Geschichte. Ich konnte es kaum glauben: Ihre alleinerziehende Mutter war schwer alkoholkrank und immer, wenn sie als 14-jähriges Mädchen von der Schule nach Hause kam, wusste sie nicht, in welchem Zustand sie ihre Mama antreffen würde. Einen Großteil des Haushalts übernahm Verena selbst, räumte auf, putzte, kochte Essen usw. – eine Überforderung für einen Teenager. Und so wuchs sie heran. Mit 19 Jahren machte sie dann ein Au-pair-Jahr in Norwegen. Und genau in dieser Zeit verstarb ihre Mutter plötzlich.

Nach dem Auslandsjahr kam Verena dann zu unserem Orientierungsjahr Lebenstraum. Sie wollte sich ein Jahr Zeit nehmen, um ihre Geschichte aufzuarbeiten. Manches zu klären. Innerlich wieder ins Lot zu kommen. Auch wenn noch nicht alles heil und perfekt ist: Heute kann sie zurückblicken und sagen: „Auch wenn Stürme um uns toben, wenn alles andere zerbricht und der Boden unter den Füßen verschwindet – ich darf wissen, dass Jesus mich trotzdem auffängt.“

Vor acht Jahren haben meine Frau und ich das Orientierungsjahr „Lebenstraum“ gegründet. 14 Teilnehmer verbringen zehn Monate bei uns, um sich persönlich, geistlich und beruflich weiterzuentwickeln. Zu Beginn des Jahres fahren wir mit den Teilnehmern ein Wochenende lang weg und jeder darf seine Geschichte am Lagerfeuer erzählen. Mit allen Höhen und Tiefen. Ich kann es manchmal kaum glauben, was hinter einem starken jungen Mann oder einer taffen jungen Frau für eine Lebens- und Familiengeschichte steckt.

Das Erzählen von Lebensgeschichten am Feuer hat mich gelehrt, dass jede Geschichte einzigartig und herausfordernd ist. Es gibt keine glatten Biographien, bei denen alles perfekt ist. Das Leben mutet jedem von uns Dinge zu, die nicht leicht zu tragen sind. Manchem früher – manchem später.

Die Bibel ist voller Familientragödien

Dass im Leben nicht alles glatt geht, können wir auch in der Bibel sehen. Dieses Buch ist voller herausfordernder Familiengeschichten. Dort finden wir keine einzige idyllische Vater-Mutter-Kind-Geschichte, bei der immer alles eitel Sonnenschein ist. Bereits die erste Familie, die uns gleich zu Anfang der Bibel vorgestellt wird, ist von Lügen und Schuldzuweisungen gekennzeichnet. Adam und Eva schieben sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe: „Die Frau, die du mir gegeben hast, hat mir von der Frucht gegeben!“ (1. Mose 3,12). Und auch in der nächsten Generation geht die Tragödie weiter: Die ersten beiden Brüder – Kain und Abel – bildeten ein sehr ungleiches Paar. Kain wird schließlich so neidisch auf seinen Bruder, dass er ihn hinterrücks auf dem offenen Land ermordet. Und das ist erst der Anfang. Wenn wir weiter in der Bibel blättern, lesen wir von unehelichen Verhältnissen, von Lügen und Verrat. Wir lesen von Ehebruch und Mord. Von Hass und Neid unter Brüdern. Von Eitelkeit und Missgunst.   

Aber – Gott sei Dank …

… gibt es auch andere Geschichten. Geschichten von Versöhnung, Vergebung, Veränderung der Vergangenheit. Wir lesen von Menschen, die durch Gottes Hilfe ihren Charakter schleifen lassen und dadurch ganze Generationen beeinflussen. Durch sie wird ein Segensstrom in Gang gesetzt, der bis heute spürbar ist. So ist es etwa bei Josef, der seinen verhassten Brüdern vergibt und für seine ganze Familie eine neue Heimat in Ägypten schafft. Als Josef auf sein Leben zurückblickt, zieht er ein positives Fazit. Obwohl seine eigenen Brüder ihn nach Ägypten verkauften und Josef durch viele schwere Täler gehen musste, sagt er zu seinen Brüdern in 1.Mose 50,20: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen – aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt notwendig ist: Nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk“. Diese Geschichte – und viele andere Familiengeschichten in der Bibel – machen Hoffnung. Gott kann aus den schwierigsten Verhältnissen etwas Gutes wachsen lassen. Gott macht aus schlimmen Geschichten eine Segensgeschichte.

Ehrlich mit sich selbst

Gott verwandelt Tränen in Segen. Das durfte Verena in ihrem Leben erfahren. Durch ihre Erlebnisse im Kinder- und Teenageralter und durch den plötzlichen Tod ihrer Mutter hatte sie einen schweren Rucksack, mit dem sie durchs Leben gehen musste. Aber durch Gespräche, Gebete, Mentoring und Therapie konnte sie Stück für Stück Dinge aufarbeiten und durfte in der Gemeinschaft mit anderen jungen Menschen in kleinen Schritten Heilung erfahren.   

Jeder Mensch trägt einen Rucksack seiner Vergangenheit mit sich herum. Mancher ist sehr schwer, mancher leichter. Und deshalb ist es umso wichtiger, sich ehrlich zu fragen: Woher komme ich – wer bin ich – wie hat sich mein Charakter gebildet? Wie hat mich meine Herkunftsfamilie geprägt?

Folgende Fragen können dabei helfen:

        Was für Schätze (Charakter, Begabung) haben mir meine Eltern weitergegeben – von denen ich zehren kann – die ich ausbauen will?

        Wo sind aber auch negative Verhaltensweisen, die ich übernommen habe – und wie kann ich sie verändern?

        Wo gibt es Schuld, wo wurde mir Unrecht getan, wo wurde ich verletzt, gedemütigt oder unterdrückt?

        Und wo gebe ich Defizite und Unrecht, das mir angetan wurde, an andere weiter? 

Das Nachdenken über diese Fragen kann dabei helfen, die eigene Lebenserfahrung aufzuarbeiten und Stück für Stück Heilung zu erfahren. Diese ermöglicht es, sich von Gott verändern zu lassen. Und von diesem Segen können Sie anderen weitergeben.

Die Bibel ermutigt uns, Nägel mit Köpfen zu machen und aktiv zu werden.

Deshalb schreibt Paulus an die Epheser (4,22-24):

Ihr sollt euch von eurem alten Leben, dem «alten Menschen» mit all seinen trügerischen Leidenschaften, endgültig trennen und euch nicht länger selbst zerstören. Gottes Geist will euch mit einer völlig neuen Gesinnung erfüllen. Ihr sollt den «neuen Menschen» anziehen, wie man ein Kleid anzieht. Diesen neuen Menschen hat Gott selbst nach seinem Bild geschaffen; er ist gerecht und heilig, weil er sich an das Wort der Wahrheit hält.

Das hört sich leicht an – ist aber alles andere als einfach: Das alte Leben ablegen wie ein Kleidungsstück und dann den neuen Menschen anziehen. Es ist ein Prozess, der nicht in einem Augenblick passiert. Es braucht viele Gespräche, Klärung der Vergangenheit. Es dauert manchmal Jahre – bei manchen schweren Lasten vielleicht ein ganzes Leben – um mit ihnen umgehen zu lernen.

So einen Prozess zu bewältigen, schaffen wir nicht allein. Wir brauchen die Unterstützung von Menschen, mit denen wir es einüben, ehrlich vor uns, vor anderen und vor Gott zu werden. Das kann ein Mentor oder ein Seelsorger sein. Manchmal ist es aber auch hilfreich, einige Gespräche mit einem Therapeuten oder Psychologen zu führen. 

Zum Schluss

Niemand kann seine Familiengeschichte allein bewältigen. Wir brauchen Gesprächspartner auf unserem Weg. Nach meiner Erfahrung kann durch Gottes Hilfe, Gebet, intensive Gespräche und Vergebung Neues entstehen. So wie bei Verena – oder auch bei Josef in der Bibel. Gott kann aus meiner schwierigen Geschichte eine Segensgeschichte werden lassen.   


Seit 2014 leitet der Theologe Stephan Münch gemeinsam mit seiner Frau Hanna das Projekt „Lebenstraum“, das junge Menschen für 10 Monate begleitet und individuell in Persönlichkeit, Beruf und Glaube fördert. Außerdem ist er Coach und Mediator, Dozent und Autor. Stephan und Hanna haben gemeinsam vier Kinder.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Erlebt Magazin zum Thema „Familie“ (Ausgabe Nr. 36 – Dezember 2022)

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