Elvis Presley, Romy Schneider, Whitney Houston, Amy Winehouse – erfolgreiche, weltbekannte Prominente, die unter Süchten litten. Auch Profisportler, Prediger und Politiker sind durch ihre Sucht in den Medien gelandet – Sucht ist kein Phänomen einer gewissen gesellschaftlichen Schicht, sondern kann Jung und Alt, Arm und Reich gleichermaßen treffen, auch Christen. Doch was ist Sucht eigentlich? Wo bekommen Betroffene Hilfe und Unterstützung? Gibt es ein Zurück und hilft der christliche Glaube? Wir haben dazu Frau Claudia Dammasch und Ihre Kollegin Schwester Tanja, Blaues Kreuz in Deutschland e.V., befragt.

C. Dammasch, Blaues Kreuz Deutschland e.V.Schwester Tanja Vorsteher, Erwachsenenbildung Blaus Kreuz Deutschland e.V.

V.l.n.r.: Claudia Dammasch, Assistenz der Geschäftsführung Blaues Kreuz Deutschland e.V.
und Schwester Tanja Vorsteher, Erwachsenenbildung Blaues Kreuz Deutschland e.V.

Was ist eine „Sucht“ genau? Ist eine Sucht eine Krankheit?
Am 18. Juni 1968 erkannte das Bundessozialgericht Alkoholismus als Krankheit in Deutschland an. Das Wort Sucht an sich stammt etymologisch von dem Wort „siechen“ – also an einer Krankheit leiden.

Sucht und Abhängigkeit werden synonym verwendet. „Sucht ist das nicht mehr kontrollierbare Verlangen nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebnis- und Bewusstseinszustand“ – so lautet die offizielle Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Was sind charakteristische Kennzeichen einer Abhängigkeit?
Laut ICD-10, Liste von anerkannten Krankheiten und Gesundheitsproblemen, die von der WHO herausgeben wird, soll die Diagnose Abhängigkeit dann gestellt werden, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien während des letzten Jahres vorhanden waren:

  • Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang zu konsumieren.
  • Verminderte Kontrollfähigkeit in Bezug auf den Beginn, die Beendigung oder die Menge des Konsums.
  • Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums
  • Nachweis einer Tendenz im Sinne von erhöhten Dosen, die erforderlich sind und die ursprünglich durch niedrige Dosen erreichte Wirkung hervorrufen.
  • Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Konsums sowie ein erhöhter Zeitaufwand, um zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen.
  • Anhaltender Konsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen.

Welche Formen von Sucht bzw. Abhängigkeit gibt es?
In der neuen Version 11 des ICD*, das in den nächsten Jahren in Deutschland eingeführt wird, spricht man von Sucht und zugehörigen Störungen.  Vereinfacht kann man von 2 Formen sprechen:

  • Stoffgebundene Süchte: z.B. Alkoholabhängigkeit, Abhängigkeit von illegalen Drogen oder Medikamentenabhängigkeit;
  • Süchtiges Verhalten: z.B. pathologisches Glücksspiel oder problematisches Computerspielen und Computerspielstörung (Gaming Disorder)

(*ICD – Internationale Klassifikation der Krankheiten)

Kann Suchtverhalten genetisch veranlagt sein?
Es ist anzunehmen, dass ein missbräuchlicher oder abhängiger Konsum von legalen oder illegalen Drogen die Erbsubstanz verändert. Forschungen im Bereich der Prägung der Erbsubstanz durch Umwelteinflüsse, Nahrungsmittelaufnahme und extreme Erlebnisse (Epigenetik) legen nahe, dass sich die Genstruktur durch unseren Lebensstil und die Bewältigung von Lebensereignissen über chemische Prozesse verändert. Diese veränderten Strukturen können an die nächste Generation weitervererbt werden.

Einige genetische Veränderungen bei Kindern suchtkranker Eltern sind bereits belegt, z.B. die Reizbarkeit des sogenannten Belohnungssystems, die höhere Verträglichkeit und die Empfänglichkeit für Effekte, die die Droge auslöst. Konkret bewiesen gilt die genetische Beteiligung bei Alkohol. Das bedeutet, dass für Kinder von alkoholabhängigen Eltern eine sehr viel höhere Wahrscheinlichkeit besteht, ebenfalls alkoholabhängig zu werden, als für Kinder von nicht alkoholabhängigen Eltern.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Bei Menschen, bei denen aus genetischen Gründen zu wenig Neurotransmitter (Botenstoffe) hergestellt werden, kann leichter eine Sucht entstehen. Dennoch besteht nach wie vor ein dringender Forschungsbedarf im Bereich Sucht. Hier wird noch zu wenig seitens des Staates investiert.

Was sind aus ihrer Erfahrung die am häufigsten vorkommenden Suchtmittel in unserem Land?
AlkoholDie im Jahrbuch 2020 veröffentlichten Statistiken der Deutschen Hauptstelle Sucht (DHS) machen deutlich, dass ich Deutschland immer noch die legale Droge Alkohol an erster Stelle steht. Mit 131 Litern pro Kopf und Jahr steht Deutschland damit im internationalen Vergleich auf Platz drei. Jährlich sterben rund 74.000 Menschen an den Folgen missbräuchlichen oder süchtigen Alkoholkonsums.

An zweiter Stelle steht der Konsum der legalen Droge Nikotin (900 Stück pro Kopf), gefolgt von einem ansteigenden missbräuchlich oder abhängigen Konsum von Medikamenten durch Langzeitanwendung, vor allem Schlafmittel, Beruhigungsmittel und opioidhaltige Schmerzmittel (1,9 Mio). Dies betrifft vor allem ältere Menschen und Frauen.

Neu zu beobachten ist der Anstieg des Konsums von Nikotin in Wasserpfeifen (Shisha). Er liegt derzeit bei 25 %. Cannabis ist bei Jugendlichen (ca 8%) und auch Erwachsenen (ca 6%)die beliebteste illegale Droge. Für die Beschaffung hat sich der Handel über das sogenannte Darknet etabliert. Der Konsum illegaler Rauschgifte nimmt zwar etwas ab, dennoch steigt das Durchschnittsalter der Konsumierenden und damit die Behandlung von Langzeitschädigungen und auch die Todesfälle.

Sehr bedenklich ist die Zunahme von Menschen mit einer Glücksspielsucht. Der legale deutsche Glücksspielmarkt verdient daran etwa 40 -45 Mrd. Euro. Immer beliebter werden sogenannte Onlinecasinos.

Was sind die meistgenannten Ursachen für Abhängigkeitserkrankungen? Spielen Leistungsdruck, Traumata oder auch eine innere Leere, Sehnsucht nach etwas dabei eine Rolle?
Es gibt mehrere begünstigende Faktoren, die zu einer Sucht führen. Zwei davon sind besonders auffällig und in vielen Biographien Suchtkranker zu entdecken:

  • Unbefriedigte Bedürfnisse werden durch die Sucht kompensiert. Ein echtes Bedürfnis wird ersatzbefriedigt.
    Beispiel: Bedürfnis nach Entspannung. Die Wirkung von Suchtmitteln ermöglicht vermeintlich unverzüglich, was sonst durch eigenes teils mühsames Engagement und deutlich mehr Zeitaufwand erreicht würde, sich entspannt zu fühlen oder von Sorgen und Problemen abschalten zu können.  
  • Beziehungsprobleme sind „Suchtbeschleuniger“. Sucht ermöglicht, sich von (der häufig überfordernden) Familie und Freunde zurückzuziehen. 

Suchtkrank ist man in der Regel nicht von heute auf morgen, vielmehr entwickelt sich eine Abhängigkeit. Wie kann es dazu kommen?
Zuerst einmal: kein Mensch entscheidet sich bewusst dafür, süchtig zu werden.
Das Suchtmittel wird zunächst einmal dazu genutzt, sich selber wohlzutun oder aus einer bedrängenden Gefühlslage herauszuhelfen. Weil die nötigen Strategien fehlen, um sich zu entspannen, Abstand zu gewinnen oder ein bestimmtes Problem zu lösen, wird nach einer schnellen effektiven Lösung gesucht. Das Suchtmittel ist eben ein nur Mittel, um ein ersehntes psychisches oder emotionales Erleben hervorzurufen. Bei manchen ist das die Entspannung, bei anderen die Leistungssteigerung, das Glücksgefühl, der Rausch und bei wieder anderen das extreme Kopfkino.

Immer aber geht es um eine Art Belohnung und ein Gefühl der Zufriedenheit. Durch die Eigendynamik, die der Stoff im Körper auslöst, kommt zu einer wachsenden psychischen Bindung an das Suchtmittel ein zunehmender körperlicher Bedarf. Die Übergänge zwischen regelmäßigem, missbräuchlichem und abhängigem Verhalten sind fließend und werden von den Betroffenen selber oft viel später ernstgenommen, als von den Angehörigen.

Der klassische Verlauf geht von Neugier und Experimentierlust über erste Rauscherfahrungen zu steigendem Konsum. Der Genuss der positiven Wirkung wird zur Gewöhnung. Weil die Wirkung nachlässt, steigt der Konsum, um den erwünschten Effekt zu erhalten. Aus regelmäßigem Konsum wird unangemessener Konsum (morgens schon ein Bier) und schließlich der missbräuchliche Konsum (wann immer möglich). Die Person kommt nicht mehr ohne das Suchtmittel aus.

Hier kippt die Lage und das Suchtmittel übernimmt die Regie. Die Person verliert die Kontrolle über den Konsum und wird vom körperlichen und psychischen Verlangen nach dem Effekt des Suchtmittels gesteuert. Sie ist suchtkrank geworden. An diesem „point of no return“ wird nicht mehr nach Lösungen für die Probleme gesucht und die betroffene Person hat keine Kraft mehr, sich dagegen zu stellen. Ab jetzt geht es nur noch um Beschaffung und Konsum. Alle anderen Lebensbereiche werden diesem Ziel untergeordnet.

Woran können Suchtgefährdete erkennen, dass sie Gefahr laufen, abhängig zu werden?
Leider erkennen Suchtgefährdete ihre Situation oft viel zu spät. Ihr Suchtsystem hat sie so im Griff, dass sie sich ihre Realität neu zurechtrücken, bis sie in dieses System passt. Dass sie sich selber dabei täuschen und andere mit, ist ihnen oft lange nicht klar. Es dient ja alles ihrem Ziel, sich wohlzufühlen und zufrieden zu sein. Deshalb wird oft die Grenze zwischen Selbstkontrolle und Fremdkontrolle nicht wahrgenommen.

Erst, wenn die betroffene Person hart mit der Realität konfrontiert ist und ihre persönliche Schamgrenze erreicht, kann sich etwas ändern. Das kann der Bruch mit der eigenen Familie sein, die Ablehnung durch Familienmitglieder, der Verlust der Arbeit oder einer Position, der Führerscheinentzug oder das Aufwachen unter einem Gebüsch im Park oder im Krankenhaus. Die Ent-täuschung ist der Schlüssel zur Einsicht und Veränderung.

Gibt es ein Zurück?
In den allermeisten Phasen des Suchtverlaufs kann die betroffene Person noch aussteigen. Je weiter sie in den Kreislauf gerät, desto schwieriger ist das allerdings. Wichtig ist zu wissen, dass es immer eine Möglichkeit zum Ausstieg gibt, auch wenn man den sogenannten „point of no return“ erreicht hat und aus dem abhängigen Verhalten eine irreversible körperliche Krankheit geworden ist. Zur Gesundwerdung sind folgende Schritte möglich:

  • Ehrliches Eingeständnis gegenüber der eigenen Suchterkrankung
  •  Aufgabe des Selbstmitleids und der Opferrolle
  • Vollständige und konsequente Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben.

Wie kann man einer Suchtentwicklung vorbeugen?
Wesentlich für die Vorbeugung vor Suchtentwicklungen ist die Stärkung der Persönlichkeit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Aufklärung, Information, offene Gespräche in der Familie, positive Bindungen zu Eltern und Geschwistern, die Stärkung der Identität, das Erlernen eines vernünftigen Umgangs mit Risiken, der richtige Umgang mit Frust und Stress, die Förderung der Selbstwirksamkeit, gegenseitiger Respekt und Wertschätzung sind einige dieser vorbeugenden Faktoren.

Das innovative Präventionsprogramm blu:prevent des christlichen Suchthilfeverbands Blaues Kreuz in Deutschland e.V. bietet Erziehenden und Jugendlichen dazu ein professionelles, gut verständliches Schulungsmaterial, persönliche Beratung und diverse digitale Möglichkeiten. Über eine eigene kostenlose App, die blu:app, kann jeder sich jederzeit über Sucht informieren und seine Fragen loswerden. www.bluprevent.de/ www.vollfrei.de

Wer ist je nach Sucht der zu empfehlende Ansprechpartner, an den man sich wenden kann und sollte: ein Arzt/ Facharzt, ein Seelsorger, Pastor oder Psychologe?
Kompetenteste berufliche Ansprechpersonen sind sicherlich die Mitarbeitenden von Suchtberatungsstellen. Aber auch das Gespräch mit dem Hausarzt wäre ein erster möglicher Schritt. Des Weiteren ist der Besuch einer Selbsthilfegruppe sehr hilfreich. Ein Gespräch mit einem Pastor oder Seelsorger kann eine weitere hilfreiche Unterstützung darstellen.

Angehörige eines Menschen mit einer Suchterkrankung sind wesentlich in Mitleidenschaft gezogen und mitbetroffen. Was empfehlen Sie Angehörigen eines Suchtkranken?
Neben den Angehörigen aus der eigenen Familie der suchtkranken Person gibt es noch eine Vielzahl Personen aus dem Umkreis, die mitleiden. Sie sind Mitbetroffene, weil sie sich um die Person Sorgen machen, ihr helfen wollen und nicht können und in ihr System der Beschaffung und des Konsums irgendwie mit verstrickt sind.

Sie müssen mit ansehen, wie Ruf und Würde, Gesundheit und Identität der betroffenen Person immer mehr Schaden nehmen. In einer ersten Zeit versuchen sie noch, den Schaden abzuwenden und hoffen, dass er oder sie das Ganze noch in den Griff bekommt. Damit steigen sie aber bereits in das Suchtsystem der betroffenen Person ein. Dazu kommt, dass das Bild des anderen ins Wanken gerät, die persönliche Beziehung gefährdet ist, die Liebe sehr herausgefordert ist und nie vermutete Verletzungen zu bewältigen sind.

Wenn man hier nicht rechtzeitig innehält, sich selber Hilfe holt und die eigene Situation aus Distanz mit einem Seelsorger, Suchtberater oder Psychologen reflektiert, dann wird das eigene Leben immer mehr von der Suchterkrankung des anderen gesteuert.

Was hilft den Angehörigen und dem Umfeld eines Suchterkrankten?
Die wesentlichste Erkenntnis, zu der Angehörige kommen müssen, ist, dass sie nicht helfen können und dass es nicht ihre Aufgabe ist, die suchtkranke Person vom Suchtmittel wegzubekommen. Sie können sie nur dabei unterstützen zu erkennen, dass sie krank ist und wo und wie sie Hilfe bekommt.

Es gilt, aus dem Suchtsystem (Beschaffung/Konsum) des anderen auszusteigen, Abstand zu gewinnen, sich davon unabhängig zu machen, den eigenen Lebensraum zu schützen und gut für sich selber zu sorgen. Das ist hart, aber es ist die echte Hilfe, weil es die betroffene Person mit ihrer Realität konfrontiert. 

Nur wer selber genügend Kraft hat, ein stabiles Selbstbewusstsein entwickelt, gut für sich sorgen kann und in tragenden Beziehungen zu Freunden und auch zu Gott Halt findet, kann einer suchtkranken Person wirksam zur Seite stehen. Denken Sie daran, bei Sicherheitshinweisen im Flugzeug heißt es immer: „Setzen sie sich zuerst selbst die Sauerstoffmaske auf, dann helfen Sie anderen.“

Selbsthilfegruppen als gute Hilfe für Betroffene
Eine wesentliche Hilfe auf diesem Weg können Selbsthilfegruppen für Angehörige von Suchtkranken sein. Hier werden Erlebnisse und Erfahrungen ausgetauscht und Wege zur beruflichen Hilfe aufgezeigt. Die Gemeinschaft mit anderen Betroffenen gibt Kraft, schwere Zeiten durchzustehen. Auch Gemeinden können in diesem Sinn eine wesentliche Stütze werden, wenn sie sich für das Thema öffnen, es aus der Tabuzone holen und ehrlich damit umgehen.

Oft hört man im Zusammenhang mit Angehörigen den Begriff Co-Abhängigkeit. Können Sie kurz erklären, was darunter zu verstehen ist?
Wer in die Lebensgeschichten und Erfahrungen von Angehörigen suchterkrankter Personen hineinhört, bekommt mit, dass diese ganz unterschiedliche Ressourcen und Bewältigungsmuster mitbringen, um ihre Situation zu meistern. Das macht deutlich, dass es kein einheitliches Verhaltensmuster von Angehörigen gibt und dass es nicht richtig ist, sie in eine bestimmte Schublade zu stecken.

Man geht heute davon aus, dass die sogenannte Co-Abhängigkeit eine Beziehungsstörung ist, die bereits in der Kindheit angelegt wurde. Lange bevor die co-abhängige Person die potentiell suchtgefährdete kennenlernte. Die Abhängigkeitsform ist, wie andere auch, behandlungsbedürftig. 

Das macht deutlich: nicht alle Angehörigen entwickeln automatisch eine behandlungsbedürftige Co-Abhängigkeit, aber alle Personen mit einer Co-Abhängigkeit brauchen ein gezieltes, auf ihre Problematik hin abgestimmtes Behandlungsangebotes.
Einige Merkmale dieser Abhängigkeitsform sind:

  • den Partner bis zur eigenen Selbstaufgabe stützen;
  • nicht in der Lage sein, die Aussichtslosigkeit des eigenen Verhaltens zu bewerten;
  • eigene Bedürfnisse nicht mehr wahrnehmen können;
  • die Selbstfürsorge deutlich vernachlässigen. 

Dies kann so weit führen, die co-abhängige Person sich selbst nicht mehr fühlen und wahrnehmen kann.

Wie erkennt man die Co-Abhängigkeit eines Menschen und in welcher Form kann man ihm in dieser Situation helfen?
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen hat sich in einem Memorandum „Angehörige in der Sucht-Selbsthilfe“ klar von dem wissenschaftlich nicht hinreichend gestützten Modell der Co-Abhängigkeit distanziert. Wir schätzen dieses Konzept als nicht genügend hilfreich für Angehörige ein.

Wann würden Sie ggf. auch den Angehörigen selbst empfehlen, eine Therapie zu machen?
Freundschaft und BeziehungenAngehörige brauchen keine Therapie, sofern sie nicht selber Symptomatiken einer psychischen Erkrankung zeigen. Sie brauchen vor allem Verständnis, Zuwendung, aktive Hilfe, tragende Freundschaften, Liebe und Geborgenheit in Gemeinschaft. Und sie brauchen Kenntnisse über Entstehung, Verlauf und Behandlung einer Suchterkrankung. Gespräche mit einem Suchtberater und Schulungsangebote der Suchthilfeverbände in Deutschland können dabei eine gute Hilfe bieten. Auch das Blaues Kreuz in Deutschland e.V. bietet regelmäßig solche Schulungen an.

Auch Christen können von Sucht betroffen sein. Haben Sie den Eindruck, dass Christen ihre Sucht noch mehr verstecken, weil sie ggf. ein schlechtes Gewissen vor Gott, der Familie, der Kirchengemeinde haben?
Ja, diesen Eindruck haben wir!
Scham ist ein sehr heftiges Gefühl. Es stellt sich ein, wenn das tatsächliche Verhalten von den Normen der Gesellschaft oder einer christlichen Gemeinde abweicht. Leider gibt es bei letzteren häufig Stigmatisierungen, besonders wenn Menschen von Sucht betroffen sind oder im sexuellen Bereich Probleme haben.

Ja, oftmals wird die Sucht von gläubigen Menschen verleumdet und versteckt. Leider ist in christlichen Gemeinden verbal viel von Aufrichtigkeit die Rede. Meist bleibt es aber unkonkret. Wenn jemand wirklich aufrichtig von seinen Fehlern und seinem derzeitigen Unvermögen (z.B. sich nicht mehr zu betrinken) redet, wird er schnell sanktioniert.

Wie hilft aus Ihrer Sicht der christliche Glaube Suchtkranken und Angehörigen, Sucht zu überwinden?
Glaube VaterliebeGottes Wort zeigt uns auf, wie Jesus den Menschen begegnet. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn kommt der Vater auf sein durch Lebensbrüche gezeichnetes Kind mit weit geöffneten Armen zu. Er wartet auf seine Kinder, hat sie lieb, ungeachtet dessen, was sich in deren Leben ereignet hat. Dies hilft suchterkrankten Menschen, aber auch Angehörigen, sich selbst wieder annehmen und lieben zu können, weil Gott sie liebt. Denn auch Angehörige sind von Schuld- und Schamgefühlen enorm belastet.

Ab wann kann man sagen, man hat es geschafft und ist frei von Sucht?
Frei von Sucht leben zu können, sehen Suchtkranke und Angehörige häufig als ein kostbares Geschenk an. Und zugleich ist es eine tägliche Entscheidung für das Leben und gegen das Suchtmittel bzw. das süchtige Verhalten.

Wie ermutigen Sie jemanden dazu, Hilfe in Anspruch zu nehmen, nicht aufzugeben und für ein Leben ohne Sucht und Abhängigkeit den Weg der Therapie zu gehen?
Wir begleiten Menschen, wenn sie sich in eine Beratungsstelle oder zu Ärzten begeben wollen. Wir besuchen Suchtkranke und Angehörige, nehmen uns Zeit für sie, hören ihnen zu – und machen ihnen Mut!
Die Entscheidung aber, sich generell auf einen neuen Weg, in ein suchtfreies Leben zu begeben, kann einem suchtkranken Menschen bzw. einer Angehörigen niemand abnehmen. Diese Entscheidung trifft jeder und jede selbst. Dass diese Entscheidung in den Herzen von Menschen getroffen wird, dafür beten wir! Und wir suchen Mitbetende.

Herzlichen Dank für das Interview!

Betroffene finden mehr Informationen und Hilfe auf der Website www.blaues-kreuz.de/de/wege-aus-der-sucht/

Sehen Sie sich hier die ermutigen Geschichten von Menschen, die mit Gottes Hilfe frei von Sucht wurden: Ein erfülltes Leben frei von Sucht 

Für Informationen aus fachärztlicher Sicht lesen Sie auch das weiterführende Interview mit Dr. med. Bodo Karsten Unkelbach, dem Klinikleiter und Chefarzt des Zentrum für Seelische Gesundheit Marienheide, Klinikum Oberberg


Dieser Beitrag stammt aus unserem ERLEBT Magazin zum Thema „Sucht“.
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Interview mit Dr.med. Unkelbach - Sucht