Du bist nicht allein –
warum es hilft, über Einsamkeit zu sprechen
von Stephanie Hecke, Theologin und Diakoniewissenschaftlerin
Es ist ein warmer Sommerabend an der Küste Italiens. Ich habe den Tag auf dem Rad verbracht, bin durch Olivenhaine gefahren, habe den Blick auf das Meer genossen. Müde, zufrieden und hungrig kehre ich ins Hotel zurück, freue mich auf das Abendessen im Restaurant. Ein Kellner begrüßt mich freundlich – und zögert. „Nur für eine Person?“ fragt er irritiert. Er führt mich an einen Tisch für zwei und deckt das zweite Gedeck mir gegenüber ab.
Normalerweise genieße ich es, nach einem erfüllten Tag in Ruhe zu essen und meine Gedanken schweifen zu lassen. Aber heute ist es anders. Um mich herum sitzen Familien, Paare, Freundesgruppen. Es wird gelacht, angestoßen, erzählt. Ich wünsche mir jemanden, der mir zuhört, mit dem ich lachen und die Erlebnisse des Tages teilen kann. Mit jeder Minute fühle ich mich unwohler, als wäre etwas mit mir nicht in Ordnung, nur weil ich diesen Urlaubsabend allein verbringe. Ich fühle mich einsam unter vielen. Einsam – mitten unter Menschen.
Was ist Einsamkeit?
Wer kennt sie nicht, die Einsamkeit? Einsamkeit ist nicht dasselbe wie Alleinsein. Alleinsein kann wohltuend und bewusst gewählt sein – etwa, wenn wir Ruhe brauchen oder Zeit für uns selbst. Einsamkeit hingegen ist ein Gefühl. Sie beschreibt das schmerzhafte Empfinden, emotional von anderen getrennt zu sein – auch wenn wir nicht allein sind. Sie entsteht, wenn unser Bedürfnis nach Nähe und Verbundenheit nicht erfüllt wird. Einsamkeit gehört zum Menschsein dazu. Es ist eines der klassischen menschlichen Gefühle, so wie wir auch traurig sein können oder tiefe Freude empfinden. In diesem Sinne ist Einsamkeit ein wichtiges Signal: Sie macht deutlich, wie sehr wir Menschen auf Beziehungen angewiesen sind – Beziehungen, in denen wir uns gesehen, gehört, angenommen und zugehörig fühlen. Und sie trifft nicht nur die, die allein wohnen oder leben. Einsamkeit kann uns auch – oder gerade – inmitten von Beziehungen begegnen: Im hektischen Alltag einer Familie, in einer distanzierten Partnerschaft, im Team, in dem wir uns nicht verstanden fühlen. Gerade dort, wo wir uns Verständnis und Nähe erhoffen, tut Einsamkeit besonders weh.
Was, wenn es an mir liegt? Das Tabu der Einsamkeit
Einsamkeit fühlt sich oft an wie ein persönliches Versagen. Viele Betroffene glauben, sie seien die Einzigen, denen es so geht – während alle anderen Freunde, Familie, erfüllte Beziehungen hätten. Viele, die Einsamkeit erleben, schämen sich dafür. Denn Einsamkeit wird oft gleichgesetzt mit „nicht genug sein“. Einsamkeit nagt am Selbstwert – sie lässt uns an unserer Liebenswürdigkeit und Bedeutung zweifeln. Sie berührt die Angst in uns, nicht gewollt oder gar nicht geliebt zu sein. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Wer Einsamkeit empfindet, ist sensibel für die eigene Beziehungsbedürftigkeit. Aus Scham bleiben aber viele mit ihrem Erleben allein und ziehen sich zurück. Einsamkeit ist ein Tabuthema – und gerade das macht sie so gefährlich.
Einsamkeit hat viele Gesichter
In Deutschland fühlen sich Millionen Menschen einsam. Einsamkeit kann jeden treffen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft oder sozialem Status. Es gibt jedoch Phasen im Leben, in denen das Risiko höher ist, einsam zu werden. Besonders gefährdet sind zwei Altersgruppen: Jugendliche, die auf der Suche nach Zugehörigkeit sind, und ältere Menschen, deren soziale Kontakte häufig abnehmen. Aber auch Menschen in Übergangsphasen, nach Trennungen, beim Eintritt in den Ruhestand, nach einem Umzug oder dem Verlust eines geliebten Menschen können betroffen sein. Auch Menschen, die Sorgearbeit leisten – sei es durch Kindererziehung oder Pflege von Angehörigen – sind besonders gefährdet, einsam zu werden. Zeitmangel, soziale Isolation und emotionale Erschöpfung erschweren es, tragfähige Netzwerke aufzubauen. Ebenso betroffen sind chronisch kranke, arbeitslose oder von Armut betroffene Menschen, die weniger am sozialen Leben teilhaben können – was ihr Risiko, einsam zu werden, zusätzlich erhöht. Einsamkeit ist kein Randphänomen. Sie betrifft Menschen in jedem Alter und in jeder Lebenslage – und sie betrifft mehr von uns, als wir denken.
Du bist ein Gott, der mich sieht
Einsamkeit schmerzt, und das kommt nicht von ungefähr. Wir Menschen sind als soziale Wesen, auf Beziehung hin geschaffen. Dabei umfasst unser Beziehungsnetz drei Dimensionen: die Verbindung zu anderen Menschen, zu uns selbst – und zu Gott. Für viele gläubige Menschen wird die Beziehung zu Gott in solchen Zeiten zur tragenden Kraft. Der Glaube an einen Gott, der uns zuspricht: „Ich habe dich wunderbar geschaffen – du bist gewollt, geliebt und einzigartig“, kann uns durch Phasen der Einsamkeit hindurchtragen.
Und doch: Auch gläubige Menschen sind nicht vor Einsamkeit geschützt. Aber der Glaube kann eine große Stütze werden, in der Stille, im Gebet, in Liedern oder in der Meditation die Nähe Gottes zu erfahren. Der Geist Gottes wird in der Bibel nicht umsonst als Begleiter und als Tröster beschrieben.
Mich bewegt besonders die Geschichte von Hagar, der ägyptischen Sklavin, die einsam und verzweifelt in die Wüste geflohen ist. Dort begegnet ihr ein Engel. Sie nennt Gott daraufhin: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (1. Mose 16,13). Was für ein starkes Bild! Auch in unserer Einsamkeit sind wir gesehen, gehalten, gemeint.
Einsamkeit sichtbar machen
Ein Wendepunkt für mich war die Mitarbeit in einer ökumenischen Initiative, die Trauerfeiern für Menschen gestaltet, die ohne Angehörige gestorben sind. Sie hatten niemand, der zu ihrer Beerdigung gekommen wäre. Wir alle waren der Überzeugung: Niemand soll den letzten Weg allein gehen. Jeder Mensch verdient einen würdevollen Abschied. Von diesen Erfahrungen habe ich oft erzählt – und war überrascht, wie viele Menschen daraufhin von ihrer eigenen Einsamkeit berichteten. Menschen, die mir nahestehen, von denen ich nie gedacht hätte, dass auch sie sich hin und wieder einsam fühlen. So entstand in mir der Wunsch, aktiv über Einsamkeit zu sprechen. Ich habe Geschichten über Einsamkeit gesammelt, um sichtbar zu machen, dass Einsamkeit Teil des Lebens ist – aber nicht unser ganzes Leben bestimmen muss.
Was hilft gegen Einsamkeit?
Was hilft gegen Einsamkeit? Eine schnelle Lösung, die für alle passt, gibt es leider nicht. Aber kleine Schritte können viel bewirken. Vielleicht ist heute der Tag für einen ersten Schritt:
- Sprich mit jemandem über deine Einsamkeit. Eine Freundin, ein Seelsorger (auch über die Telefonseelsorge möglich, per Telefon oder Chat), ein Mensch, dem du vertraust – oder Gott.
- Werde aufmerksam für andere. Vielleicht kennst du jemanden, der sich zurückgezogen hat. Ein Anruf, ein offenes Ohr, eine kleine Geste kann viel bedeuten.
Es gäbe noch vieles zu sagen über die Einsamkeit: über die Rolle der sozialen Medien, die Architektur unserer Städte, die Veränderungen von Wohnen, Arbeit und Beziehung. Doch für heute genügt vielleicht dieser Impuls: Einsamkeit zu überwinden, beginnt damit, sie nicht zu verstecken, sondern über sie zu sprechen. Sprich über deine Einsamkeit – oder höre jemandem zu, der davon erzählt.
Du bist nicht allein. Und du kannst anderen zeigen, dass auch sie es nicht sind.
Über die Autorin:
Stephanie Hecke, 1990 geboren, ist evangelische Theologin und Diakoniewissenschaftlerin. Seit ihrer Ausbildung zur Pfarrerin arbeitete sie in der Kirche, in der Diakonie und in der diakoniewissenschaftlichen Lehre. Derzeit ist sie als Referentin für theologische Grundsatzfragen im Präsidialbüro der Diakonie Deutschland tätig. Stephanie Hecke lebt und arbeitet in Stuttgart und Berlin.
Dieser Artikel stammt aus dem ERLEBT Magazin zum Thema „Einsamkeit“ (Ausgabe Nr. 49 – September 2025)
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