Identitätskrise?

Was würde Jesus tun


von Hans Simon Pahl, Pastor Equippers Flensburg

Identität ist ein Herzensthema für mich und das sollte es auch für dich sein. Ich kann mit Überzeugung sagen, dass ich nicht das tun könnte, was ich jetzt tue, wenn Gott nicht mein verzerrtes Selbstbild geheilt hätte. Weder als Pastor, Leiter oder Arbeitgeber und ganz besonders nicht als Ehemann und Vater.

Das ist natürlich ein lebenslanger Prozess. Meine Erfahrung ist, dass es oft eine grundlegende Schwelle zu übertreten gilt.

Jesus sagt in der Bergpredigt (Matthäus 5-7), eine seiner wichtigsten öffentlichen Reden: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“

Wenn wir diese Aussage mit dem antiken Verständnis vom Herz betrachten, dann könnte man es so übersetzen: Gesegnet (glücklich, zufrieden, fruchtbar, erfolgreich) sind die, die mit sich selbst und Gott im Reinen sind. Die ein klares Bild von sich selbst und von Gott haben. Deine Identität prägt deine Interpretation der Realität und deine Möglichkeiten, diese zu gestalten. Dein Denken, Fühlen und Handeln kommt aus deinem Selbstverständnis.

Wenn wir dasselbe, antike Verständnis des Herzens auf den viel zitierten Vers aus Sprüche 4,23 (Mehr als alles andere behüte dein Herz, denn aus ihm fließt dein Leben.) anwenden, wird es sehr konkret. Damit wir etwas behüten können, müssen wir zuerst verstehen, was es ist.

Durch meine eigene Entwicklung inspiriert habe ich angefangen, mit einem neuen Blick die Evangelien zu lesen.

Im Markusevangelium wird eine Szene beschrieben, die mich immer schon fasziniert hat:

Eines Tages kam Jesus aus Nazareth in Galiläa und ließ sich von Johannes im Jordan taufen. Als er aus dem Wasser stieg, sah er, wie der Himmel sich öffnete und der Heilige Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Und aus dem Himmel sprach eine Stimme: “Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich große Freude.” Markus 1,9-11

Es ist dieser Moment, der einen Wendepunkt für Jesus markiert. Einfach auf den Punkt gebracht kann man sagen: Als er wusste, wer er war, wusste er auch, was er zu tun hatte. Dreißig Jahre Vorbereitung für drei Jahre öffentliches Wirken. Dreißig Jahre, um zu verstehen, wer er ist. In diesem Moment startet der Countdown, der seinen Weg bis zu seinem Tod am Kreuz führt.

Johannes der Täufer weigert sich zuerst, Jesus zu taufen. Er fühlt sich nicht würdig dazu. Doch Jesus trifft in dem Moment eine Entscheidung. Er identifiziert sich mit der Gebrochenheit und Schuld der Menschheit, denn die Taufe des Johannes sollte Buße vor Gott ausdrücken. Jesus macht diesen Schritt freiwillig. Er ist dem gehorsam, was er über seine Identität und Berufung begriffen hat. Daraufhin stellt sich sein himmlischer Vater zu ihm: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.

Unmittelbar auf diesen wunderschönen Moment zwischen Vater und Sohn folgt eine selbst gewählte Zeit des Leidens und teuflischer Versuchungen in der Wüste. Das mag erst einmal irritieren, ist aber unumgänglich und notwendig. Doch dazu später mehr.

Wir können im Lukas-Evangelium lesen, dass Jesus innere Suche nach seiner Identität schon viel früher beginnt. Mit zwölf Jahren finden Jesu Eltern ihn nach dreitägiger Suche in Jerusalem im Tempel. Ich kann mich nur ansatzweise hineinversetzen, wie seine Eltern sich gefühlt haben müssen, nachdem ihr minderjähriger Sohn seit drei Tagen vermisst ist.

Als sie ihn zur Rede stellen, fragt er: “Warum habt ihr mich gesucht? Ihr hättet doch wissen müssen, dass ich im Haus meines Vaters bin.” (Lukas 2, NLB).

Jesus beginnt früh damit, sich zu differenzieren. Er stellt sich immer wieder gegen Erwartungen. Erwartungen von der Gesellschaft, von Familie und von Freunden, aber auch von seinen Nachfolgern bis hin zu sehr einflussreichen Menschen. Er ringt kontinuierlich damit, seiner Identität treu zu bleiben, und zeigt darin früh eine unglaubliche innere Stärke und Entschlossenheit. Bis zum Schluss ändert sich das nicht. Die, die sich nicht von ihm abschrecken lassen, erleben, wie ihre eigene Identität verändert wird.

Jesus fordert uns auf, ihm zu folgen. Zu seinen Jüngern sagt er – folgt mir nach und ich werde euch zu Menschenfischern machen. Wir können Jesus nicht nachfolgen, ohne dass es an unser tiefstes Selbstverständnis geht. Das Leben, das Jesus uns verheißt – ein Leben in Fülle (Joh. 10,10) – kommt aus unserem Innersten (Joh. 7). Möglicherweise ist es auch deswegen so viel leichter religiösen Regeln zu folgen als dem Menschen Jesus von Nazareth.

Vielleicht nimmt man diesen Aspekt der Nachfolge als nicht so zentral wahr. Es ist viel leichter, ihn zu bewundern, sogar ihn anzubeten. Man kann tief-theologisch über Jesus nachdenken, von sozialer Gerechtigkeit bis hin zu spiritueller Mystik ist alles möglich. Doch es ist Jesus, der Mensch, der seine Jünger auffordert, ihm zu folgen – nicht der auferstandene, verherrlichte Jesus. Wenn es der auferstandene König Jesus ist, dann habe ich ja sowieso keine Chance, ihm wirklich nachzufolgen. Dann ist er nur ein perfektes, unerreichbares Ideal, dem ich mich höchstens versuchen kann zu nähern. Wenn es aber der Jesus ist, der müde wird, der wütend ist, der Hunger hat, der missverstanden und abgelehnt, gefeiert und begehrt wird, dann provoziert es mich ganz persönlich.

In Matthäus 20,28 sagt Jesus zu seinen Jüngern, dass er nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um sein Leben zu geben. Weil das nicht nur sein biologisches Leben umfasst, sondern auch die Essenz von dem, wer er ist, muss es bei seiner Identität beginnen. Man kann nur das geben, was man besitzt. Daher konnte er nur beginnen, wenn es an seiner Identität keine Zweifel mehr gab.

Heutzutage versuchen Menschen, ihre Identität in vielen Bereichen zu finden. Durch beruflichen oder gesellschaftlichen Erfolg. In Beziehungen oder in den eigenen Opfer- und Unterdrückungserfahrungen. Andere hingegen versuchen ihre Identität sorgfältig zu kuratieren. Dabei hoffen sie, dass das Bild, das sie anderen von sich zeigen, auch irgendwann ihre eigenen inneren Unsicherheiten und Selbstzweifel vom Gegenteil überzeugt.

Jesus hätte viele Möglichkeiten gehabt, seine Identität aus den Erfahrungen seines Lebens zu ziehen. Er wird in Schande geboren. Dass die schwangere Maria und ihr Mann Josef alleine nach Bethlehem reisen, sieht in der Weihnachtstradition romantisch aus – ist es aber gar nicht. So eine Strecke würde man zu der Zeit niemals alleine reisen – nur dann, wenn die Menschen, die mir am nächsten sind, mich meiden.

Doch nicht nur das, seine Eltern flüchten aus Bethlehem und er wächst die ersten Jahre seines Lebens im Ausland auf. Später kehren sie zurück, aber nicht wieder in Josefs Heimat, sondern nach Nazareth. Jesus macht früh die Erfahrung der Heimatlosigkeit. Im Gespräch mit jungen Türken, die in Deutschland geboren wurden, ist mir ein Satz immer hängen geblieben: „In der Türkei bin ich kein echter Türke und in Deutschland bin ich kein echter Deutscher.“ Wir können natürlich nur spekulieren, ob Jesus eine ähnliche Erfahrung gemacht hat, aber mit Sicherheit hinterlässt es seine Spuren.

Der Bericht über den zwölfjährigen Jesus im Tempel ist übrigens auch das letzte Mal, dass sein Vater Josef erwähnt wird. Am Kreuz fordert der sterbende Jesus seinen Jünger Johannes dazu auf, sich um seine Mutter Maria zu kümmern. Das ist ein starkes Indiz dafür, dass Jesus früh seinen Vater verloren hat. So ein Verlust in so einer wichtigen Alters- und Entwicklungsphase hinterlässt seine Spuren. Viel mehr noch als ältester Sohn in der damaligen patriarchischen Gesellschaft.

Wie schon erwähnt: Direkt nachdem Jesus bei seiner Taufe die Stimme seines himmlischen Vaters hört, die verkündet, wer er ist, führt ihn der Heilige Geist in die Wüste.

Dort mangelt es ihm an allem, was in der bekannten Bedürfnishierarchie von A. Maslow notwendig ist für Individualität und Selbstverwirklichung. Nahrung, Schutz und soziale Nähe. Genau an diesen Bedürfnissen setzt der Teufel mit seinen Versuchungen an: Wenn du Gottes Sohn bist, dann stille dein Bedürfnis nach Nahrung und körperlichem Wohlbefinden. Wenn du Gottes Sohn bist, dann stille dein Bedürfnis nach Sicherheit und stelle Gott auf die Vertrauensprobe. Doch Jesus wehrt sich dagegen, dass ihn seine Bedürfnisse definieren.

Zum Schluss bietet ihm der Teufel eine verdrehte Variante seiner tiefsten Träume und seiner Berufung an. Das Ziel, für das er sein Leben geben wollte scheint greifbar nah. Doch dazu hätte er sich dem Teufel – der an anderer Stelle als der Vater der Lügen bezeichnet wird – unterwerfen müssen. Er widersteht dem und der Teufel muss fliehen.

Die innere Erfahrung der Identität, die er über sich verstanden und auch in der Stimme des himmlischen Vaters gehört hatte, wurde in diesem Moment zu gelebter Realität. Identität beginnt mit einer Idee von mir selbst, die erst dann ihre gestalterische Kraft entfalten kann, wenn sie geprüft wurde, auch gerade in Abgrenzung zu Pseudoidentitäten.

Wir könnten noch unzählige Beispiele in den Evangelien und auch in der Apostelgeschichte finden, wie die Begegnung mit Jesus Identitäten verändert. Wie es Lügen im Selbstbild von Menschen entlarvt. Manche davon sind persönlicher Natur, andere haben kulturelle, soziologische und gesundheitliche Ursachen. Doch immer hinterlässt diese Begegnung ein verändertes Leben.

Wir finden unsere Identität als Nachfolger von Jesus nicht in dem Kreisen um uns selbst, sondern immer in der Antwort auf die Frage, die er seinen Jüngern stellt: Wer glaubt ihr, dass ich bin. Wenn wir beginnen, darauf zu antworten – nicht rein intellektuell oder theologisch, sondern ganz ehrlich und persönlich, lässt das Echo darauf uns immer mehr verstehen, wer wir sind.

Wer glaubst du, ist dieser Jesus?

 


Dieser Beitrag stammt aus unserem ERLEBT Magazin zum Thema „Identität“.
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