von Klaus-Günter Pache, Pastor em.

Das erste Mal in meinem Leben war ich mit Freunden unterwegs auf einer richtigen Segeltour. Wir hatten ein entsprechendes Boot gechartert und waren eine Woche auf den Kanälen in Nordholland und im Ijsselmeer unterwegs. In dieser Zeit habe ich eine Menge über das Segeln gelernt und mich von der romantisch naiven Vorstellung verabschiedet, Segeln sei ein entspanntes Feierabendvergnügen. So viel gilt es zu beachten – Wind, Strömung, Navigation, Hafenvorschriften, Segelkunde, Knoten lernen, Ankern, Notfallverhalten…und nicht zuletzt das Boot auf seine Seetüchtigkeit hin checken. Alles klar mit der Takelage, mit dem Motor, vor allem mit dem, was man nicht sieht. Das Unterwasserschiff bedarf der gleichen Aufmerksamkeit und Fürsorge, wie das, was man über dem Wasser sieht. Unter Wasser muss alles in Ordnung sein, will man über Wasser nicht in Seenot geraten.

Mir wurde die Zeit und dieses Abenteuer zu einem wertvollen Vergleich. Tief in unserem Inneren liegt ein Ort – die Bibel nennt ihn mal Seele, mal Herz – eine geheimnisvolle Dimension, die wir leicht vernachlässigen, die aber für unser Leben unentbehrlich ist. Wenn wir die Stürme der Zeit packen wollen, dann muss ‚unter Wasser‘ alles in Ordnung sein.

Ich hatte mir sehr viel Mühe gegeben, dass es ‚über Wasser‘ gut aussieht. Ich habe das Abitur gemacht, Theologie studiert. Ich wollte immer ein guter Theologe sein. Über zwanzig Jahre war ich zu jenem Zeitpunkt der leitende Pastor in der Paulus-Gemeinde in Bremen. Aber dann passierte es. Plötzlich ging nichts mehr. Ich habe in meinem Arbeitszimmer gesessen, konnte mich nicht rühren und hatte nur noch Angst. Sturmzeit! Ein halbes Jahr lang war ich krankgeschrieben, und in dieser Zeit habe ich mehr als einmal gedacht: es wird nicht wieder, es ist vorbei. ‚Burnout‘ nennt man dieses Phänomen, oder besser und korrekter ausgedrückt: Erschöpfungsdepression. Sturmzeit – nichts geht mehr!

Was war passiert? Vieles, auf das ich hier im Detail nicht eingehen kann, aber eins war für mich klar: Ich war zu sehr mit dem beschäftigt gewesen, was über der Wasseroberfläche zu sehen ist. Ich wollte alles im Griff haben, alles kontrollieren. Die Sonne schien, der Wind wehte und mein Boot zog seine Spur durch die blaue See. Doch dann zogen dunkle Wolken auf.

Ich denke, wir leben in einer Zeit und unter einer Generation, die überwiegend die Erfahrung macht, dass das Leben einfach, sorgenfrei und unbeschwert zu sein hat. Aber mit den Jahren merken wir, dass das nicht stimmt. Wir meinen ein gewisses Recht auf persönliches Glück zu haben und stellen fest, dass es uns sehr schnell genommen werden kann. Plötzlich ist die blaue See grau und eher wie flüssiges Metall. Der Wind heult, die Wellen gehen hoch und wir bekommen Angst. Ist das Boot in Ordnung? Hält der Kiel? Unter Wasser, im Verborgenen – alles okay?
Dieser verborgene Ort ist unsere Seele, unser Herz. Es ist der Ort, in dem Gott mit uns Menschen in Beziehung tritt. Ein Ort, in dem Überzeugungen geboren werden. Er kann das Allerheiligste sein, der Ort der Gegenwart Gottes. In Sprüche 4,23 steht ein Vers, der mir so wichtig erscheint, dass ich ihn auf meinem Mac als Desktopbild abgespeichert habe: Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt das Leben.

Was bedeutet das: Behüte dein Herz? Ich denke, wir müssen uns dazu entschließen, ihm unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen. Seine Gesundheit und Produktivität kann nicht einfach vorausgesetzt werden. Wir müssen es schützen und pflegen. Es muss einen Ort geben, an dem alles in Ordnung ist, ein Platz, der mit der Unruhe unseres Lebens fertig wird; ein Ort, an dem wir mit Gott alleine sind; ein Ort, wo wir uns von der Unruhe dieser Welt nicht einschüchtern lassen.

Da stellt sich die Frage nach dem heimlichen Motor unseres Lebens und nach der Versorgung, der Pflege unserer verborgenen Welt. Sind wir Menschen mit einer Berufung oder sind wir getriebene Menschen, immer unter Strom, gehetzt und verunsichert?

Woran erkennt man einen getriebenen Menschen?
Ein erstes Merkmal:
Einem getriebenen Menschen ist das Ziel immer wichtiger, als der Weg dorthin. Er betrachtet das Leben nur in Form von Resultaten. Vergessen wird der Prozess, der zu diesem Resultat führt.

Ein zweites Merkmal:
Getriebene Menschen können nicht warten. Eine Autoschlange auf der Autobahn macht sie wahnsinnig. Lieber fahren sie einen Umweg von 100 km, als eine Stunde im Stau zu stehen. Eine langsame Kassiererin im Supermarkt bringt sie zur Verzweiflung.

Ein drittes mögliches Merkmal:
Getriebene Menschen brauchen ständige Selbstbestätigung. Es sind die Leute, die nie genug bekommen. Statussymbole bedeuten alles, Titel, Geld! Ganz oben zu stehen – das ist allen Einsatz wert.

Ein viertes Merkmal:
Getriebene Menschen kümmern sich zu wenig um ihre moralische Integrität. Wenn das Ziel so wichtig ist, sinken die ethischen Grenzen.

Und nicht zuletzt dieses Merkmal:
Getriebene Menschen sind maßlos beschäftigt. Ihr voller Terminkalender wird zum Statussymbol. Ihr Handy ist immer eingeschaltet. Sie klagen über die viele Arbeit, aber das Schlimmste, was ihnen passieren könnte wäre, wenn sie plötzlich Zeit hätten.

Woran erkennt man dann berufene Menschen?
Ein erstes Merkmal ist dieses:
Sie verstehen sich als Verwalter, nicht als Besitzer. Berufene Menschen dienen und verschwenden wenig Gedanken an den damit verbundenen Erfolg. Wenn sie etwas verlieren, ist das keine Katastrophe. Sie ruhen in Gott.

Zweitens:
Berufenen Menschen wissen, wer sie sind. Ihre Identität ist begründet in Gott. Sie wissen sich unendlich geliebt und bewahrt.

Ein drittes Merkmal:
Berufene Leute wissen was sie tun müssen, und was sie getrost vergessen können.

Und schließlich noch ein viertes Merkmal, ganz ohne den Anspruch auf Vollständigkeit:
Berufene Menschen wollen Gott näher kommen – ihr Leben lang.

In Johannes 3 steht ein Satz, den ich viele Jahre missverstanden habe. Hier sagt Johannes der Täufer zu Menschen, die in provozieren wollen: Jesus muss wachsen, ich aber muss abnehmen. Ich habe mich gefragt: Wieso das? Jesus hat genug! Ich muss wachsen!

Genau so ist es! Kein getriebener Mensch könnte so einen Satz sagen. Als getriebene Leute müssen wir immer mehr haben. Anders können wir das Leben nicht aushalten. Sich einschränken, ein kleineres Auto fahren, auf den Urlaub im Süden verzichten, in eine kleinere Wohnung ziehen, weniger verdienen – um Gottes Willen, das kann ich nicht.

Johannes sagt: Jesus muss groß rauskommen, nicht ich! Wollen wir das? Wenn ja, dann ist das der beste Weg, die Sturmzeiten unseres Lebens zu bewältigen. Seit jener Zeit achte ich darauf, je länger, je mehr. Diesen so wichtigen biblischen Rat will ich nie mehr vergessen: Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt das Leben.

Also fragen wir uns: Stimmt es in unserem Herzen? Manchmal liegt während vieler Jahre Gleichgültigkeit und geistliche Blindheit über unserem Leben, oder uns quälen dunkle Schatten und wir können und wollen darüber nicht reden. Was hindert uns eigentlich daran, um Hilfe zu bitten? Seelsorge, Sorge für die eigene Seele, in Anspruch zu nehmen?
Mir hat das damals entscheidend geholfen, Menschen mit den ich reden und beten konnte. So etwa, so immer wieder: Durchforsche mich, o Gott, und sieh mir ins Herz, prüfe meine Gedanken und Gefühle! Sieh, ob ich in Gefahr bin, dir untreu zu werden, dann hol mich zurück auf den Weg, der zum ewigen Leben führt! (Psalm 139,23-24)

 

Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag aus dem Erlebt Magazin zum Thema Depression

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